: Verteidigung ist nichts Böses
Heute Abend ermitteln im Old Trafford von Manchester die italienischen Klubs Juventus Turin und AC Mailand den Sieger der Champions League. Eine Ehrenrettung des Catenaccio aus aktuellem Anlass
von MATTI LIESKE
Manchmal scheint es, als hätten die Italiener Defensivfußball und Offensivfußball gleichermaßen erfunden. Das Inter Mailand der 60er-Jahre machte den Catenaccio seines Trainers Helenio Herrera für alle Zeiten zum geflügelten Wort, der AC Mailand von Arrigo Sacchi beendete in den 80ern die tumbe Schreckensherrschaft der Briten und schwang sich zum Synonym für bildschönen Angriffsfußball auf.
Aber natürlich gab es beide Varianten schon lange vorher. So verfuhr das grandiose Real Madrid in den 50ern nach der Devise: „Schießt ihr ruhig eure Tore, wir machen eben ein paar mehr“. Und der Österreicher Karl Rappan hatte bereits 1938 als Trainer der Schweiz den Deutschen im Achtelfinale mit seinem berühmten Riegel das früheste Aus ihrer WM-Geschichte beschert.
Die Schweizer vergaßen jedoch auch das Toreschießen nicht, denn sie wussten, dass große Defensive erst dann wirklich erfolgreich ist, wenn sie die Basis für ebenso große Offensive darstellt. Das galt auch für das klassische Inter Mailand, welches fünf Mal in Folge mindestens das Halbfinale des Europacups der Landesmeister erreichte, den es 1964 und 1965 gewann. Inters Fußball war längst nicht so öde, wie es der Begriff Catenaccio suggeriert. Geprägt von Offensivkünstlern wie Mazzola, Suárez, Jair oder Corso lieferte sich die Mannschaft zum Beispiel 1964 zwei atemberaubende Matches mit Borussia Dortmund. Mit 2:2 und 2:0 zogen die Mailänder ins Endspiel gegen Real Madrid ein, das sie 3:1 gewannen.
Wenn Inter einmal führte, war es in der Tat schwer, noch etwas gegen die Abwehr um Burgnich und Facchetti auszurichten, doch gute Verteidigung ist an sich nichts Böses. Vor allem in Spanien, wo man in den letzten Jahren daran gewöhnt war, Europas Fußball zu dominieren, und den Verlust dieser Position an Italien nur schwer verkraftet, sieht man dies derzeit anders. Aus allen Postillen wird gegen den vermeintlichen italienischen Mauerfußball gewettert, und man vergisst gern, dass Real Madrid letztes Jahr mit drei Abwehrschlachten gegen Barcelona und Leverkusen am Ende die Champions League gewann.
Von Übel ist die Priorität der Defensive lediglich dann, wenn ihr nur minimales Offensivbemühen zur Seite steht. So wie bei Liverpool und Nottingham in den 70er- und 80er-Jahren; wie bei den Münchner Bayern und dem FC Valencia im europäischen Finale vor zwei Jahren, wo beide Teams von Anbeginn dem Elfmeterschießen entgegenverteidigten; wie bei Italiens Nationalmannschaft unter Trapattoni; wie beim aktuellen Team von Inter Mailand. Es ist jedoch ebenso gerecht wie signifikant, dass der Argentinier Hector Cúper mit seinem Betonfußball, den er selbst bei Rückstand aufrechterhält, stets scheitert. In zwei Europacupfinals mit Valencia, mit Inter in der italienischen Meisterschaft sowie zuletzt im Champions-League-Halbfinale gegen den AC Mailand. Wer nichts riskiert, wird selten triumphieren.
Arrigo Sacchis AC Mailand war das Vorzeigeprodukt einer italienischen Liga, in der sich die besten Angreifer der Welt nahezu vollständig tummelten und jedes Wochenende eine Torflut bewirkten. Die Stürmer waren das Maß aller Dinge, doch diese Zeit ist vorbei. Inzwischen suchen fast alle europäischen Spitzenklubs von Real Madrid über Manchester United bis Bayern München händeringend Defensivspieler, die den Anforderungen des modernen Fußballs gewachsen sind. Leute wie Vieira, Lucio, Nedved oder Campbell, ballsicher, schnell, technisch versiert, zweikampfkräftig, kopfballstark, torgefährlich und mit Spielübersicht. Allein, es gibt sie kaum. Nur in Italien scheinen sie auf den Bäumen zu wachsen. Nesta, Maldini, Costacurta, Ferrara, Panucci kennt man schon länger; Birindelli, Tacchinardi, Zambrotta, Brocchi, Gattuso, Materazzi, Camoranesi und etliche andere stehen ihnen wenig nach.
Trotz der unzweifelhaften Betonung solider Defensive boten die Spitzenspiele der italienischen Liga aber auch in der abgelaufenen Saison häufig rasanten Fußball auf hohem Niveau. Außer bei Inter sind Rückpässe zum Torwart oder Querpässe in der eigenen Hälfte, wie man sie in der Bundesliga zum Teil minutenlang betrachten kann, eine absolute Rarität. Gerade wegen der Stärke der Abwehrketten versuchen die römischen Teams, ebenso wie AC Mailand, Parma, Chievo oder Juventus Turin, jeden Ballgewinn zu schnellen Angriffen zu nutzen, um den Gegner auszuspielen, bevor er sich wieder formiert hat. Und mag der Tag der offenen Tür beim Viertelfinale Manchester United–Real Madrid (4:3) auch ein spektakuläres Feuerwerk gewesen sein, das intensivere, vielfältigere und interessantere Duell war der Kampf der Systeme bei Juve – Real im Halbfinale.
Ob es im Champions-League-Finale zwischen Juventus Turin und AC Mailand heute Abend in Manchester ähnlich packend zugehen wird, dürfte von den Zufälligkeiten des Spielverlaufs abhängen. Großer Fußball ist in Europacupfinals wegen des hohen Einsatzes traditionell selten. So schlecht, wie allenthalben gemunkelt wird, stehen die Chancen jedoch nicht. Vielleicht hilft ja ein frühes Tor.